Vorkämpfer für eine europäische Lawinenprognose

Lukas Ruetz setzt sich mit der Initiative IFALP für einheitliche Lawinenlageberichte im Alpenraum ein

von Eliane Drömer

Lukas Ruetz (27) aus dem Tiroler Sellrain ist Beobachter vom Lawinenwarndienst Tirol, Mitglied der Lawinenkommission und ausgesprochener Schneemaulwurf mit an die 140 Skitouren pro Saison und fast ebenso vielen gegrabenen Profilen. Mit der Initiative IFALP engagiert er sich für eine alpenweit einheitliche und leicht verständliche Lawinenprognose.

Wie ist Eure Initiative IFALP entstanden, seid Ihr Mitglieder von Lawinenwarndiensten, Lawinenkommissionen… oder kommt die Initiative von „unten“? Wer hat sich da am Biertisch zusammengesetzt?

Lukas Ruetz: „Ja genauso ist’s entstanden, am Biertisch. Das war ein loses Blogger-Treffen, das Markus organisiert hat…“

Markus Stadler, der die Facebook Gruppe „Lawinen“ moderiert?

Lukas Ruetz: „Ja, genau. Er ist ein bekannter Autor von Führerliteratur aus Rosenheim und er hat ein Treffen von Wintersportbloggern und Alpinjournalisten organisiert. Wir haben ein nettes Wochenende verbracht samt Ideenfindung, wo es Synergien gibt. Oder auch: Was könnte man zusammen für Projekte starten.“

Wann war das?

Lukas Ruetz: „Das war im April 2019. Und wir haben gleich Nägel mit Köpfen gemacht. Wir haben überlegt, wie genau man die Webseite aufbauen könnte, wie man das Wording macht und die richtige Herangehensweise … z.B. mehr ‚wir wünschen‘ uns mehr Zusammenarbeit in der Lawinenwarnung, nicht ‚wir fordern‘.“

Der gemeinsame Lawinenreport des Euregio-Projekts Tirol, Südtirol, Trentino ist sehr gut angekommen und es gibt Regionen, die Interesse haben sich anzuschließen. Andere wiederum wollen lieber weiter auf eigene Faust ihren Lawinenlagebericht modernisieren. Das ganze scheint hochpolitisch und sehr arbeitsaufwendig zu sein, wie kann das funktionieren?

Lukas Ruetz: „Die Grundidee ist, die Politik und die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass es Verbesserungspotenzial gibt. Denn wir glauben, dass der normale Skitourengeher und Freerider sich bewusst ist, dass es große Unterschiede auch in der Qualität gibt. Wir möchten nicht explizit vorgeben wie es ausschauen könnte, auch wenn der neue Euregio-Lawinenreport meiner Meinung nach die neue Benchmark ist, der sich alle anschließen könnten – das System ist Open Source.  Da fällt keinem ein Zacken aus der Krone.“

„Es werden noch eigene Süppchen gekocht“

Dennoch ziehen nicht alle Akteure an einem Strang, oder?

Lukas Ruetz: „Ein großer Teil der Nutzer steht dahinter und will in einem Europa, das schon auf so vielen Ebenen zusammenarbeitet, endlich Fortschritte sehen. Derzeit werden aber noch arg eigene Süppchen gekocht. In Italien gibt es zum Beispiel für eine Region zwei verschiedene Lageberichte. Einmal von der AINEVA, einmal von der Meteomont/Carabinieri die am gleichen Tag für die gleiche Region verschiedene Berichte mit teils verschiedenen Stufen ausgeben. Deshalb ist es ganz wichtig, dass jeder Skitourengeher drüber spricht und wenn er sich damit identifizieren kann, die Initiative unterstützt.“

Auf wen kommt es maßgeblich an?

Lukas Ruetz: „Die EAWS, also die Europäische Arbeitsgemeinschaft der Lawinenwarndienste ist das ausführende Organ. Die Lawinenwarndienste wissen ja genau wo es hapert oder wo es Entwicklungspotential gibt. Es scheitert hauptsächlich daran, dass Geld und Personal fehlt. In Kärnten zum Beispiel gibt es einen (!) Lawinenwarner der mehr oder weniger auf sich allein gestellt ist! Für ein Gebiet im Hochgebirge mit tausenden von aktiven Wintersportlern und Gästen. Wenn er mal ausfällt – was dann? Für das Euregio-Projekt ist von der EU eine große Summe zur Verfügung gestellt worden, um die Infrastruktur und die IT auf die Beine zu stellen und gute Mitarbeiter zu finden. Man muss sich nur mal die Internetseiten verschiedener Lawinenwarndienste anschauen. Viele sind für das Jahr 2020 nicht nur veraltet, sondern eine Antiquität.“

Also wollt Ihr eher eine Art Druck von unten entstehen lassen, der zunächst zu einer Bewusstseinswerdung und dann hoffentlich auch zu Aktivität der Verantwortlichen führt?

Lukas Ruetz: „Genau, ein sanfter Druck, der dazu führt, dass die Wintersportcommunity geschlossen sagt: wir wünschen uns das, bitte setzt das besser um. So, dass der sanfte Druck konstruktive Arbeit entstehen lassen kann. Deswegen ist das Ganze auf mehrere Jahre ausgelegt. Und wir sind uns bewusst: Es könnte auch nichts draus werden und alles im Sand verlaufen.“

IFALP hat bemängelt, dass es, obwohl sich alle europäischen Warndienste auf die sogenannte Europäische Gefahrenskala beziehen, trotzdem markante Unterschiede in der Anwendung gibt. Kannst Du da ein Beispiel nennen?

Lukas Ruetz: „Hierzu gibt es ein sehr gutes Beispiel, das wissenschaftlich fundiert ist. Eine Studie unter Leitung von Frank Techel vom SLF. Die Studie ist 2018 beim ISSW (Anm.d.R. International Snow Science Workshop) in Innsbruck veröffentlicht worden. Sie haben über mehrere Jahre die Lageberichte vom ganzen Alpenbogen ausgewertet. Unter anderem wie oft ist welche Warnstufe vergeben worden und was ist die durchschnittliche Stufe, die vergeben wurde. Wenn man Gebiete mit sehr ähnlichen geographischen, klimatologischen Ausgangsbedingungen vergleicht, allen voran an der französisch-schweizerisch-italienischen Grenze, wurde festgestellt, dass die Franzosen wesentlich öfter Lawinenwarnstufe 4 und 5 vergeben haben, wo die anderen einen 3er ausgeben. Und umgekehrt, dass sie sehr selten eine 1 vergeben haben, wenn wir Lawinenwarnstufe 1 haben. Dabei sind die Vergabekriterien definiert – hier wird deutlich, dass die Definition sehr unterschiedlich ausgelegt wird.“

IFALP fordert „ähnliche Prozesse bei der Erzeugung der Lawinenprognose.“ Was heißt das genau?

Lukas Ruetz: „Damit ist gemeint, wie der LLB konkret entsteht und wie die LWDs die Lawinenwarnstufe vergeben. Da sind die Prozesse in weiten Teilen ähnlich aber in manchen unterscheiden sie sich auch stark. Die Lawinenwarner gehen unterschiedlich vor, einige kommen zum Beispiel praktisch überhaupt nie ins Gelände und graben so gut wie gar keine Schneeprofile. Ich denke, ein LWD sollte je nach Situation mindestens einmal pro Woche aktuelle Schneeprofile aus seinen Beurteilungsgebieten aufnehmen können oder zur Verfügung haben. Wir denken, wenn alle wenigstens ähnlich vorgehen, dann wird das noch konsistenter. Jeder Warner sollte gezwungen sein, die EAWS-Matrix für jede Gefahrenstufenfestlegung verwenden zu müssen. Und bei der Geländearbeit sind wir wieder bei den Ressourcen: Den meisten Diensten  mangelt es einfach an Zeit und Geld um regelmäßige und adäquate Geländearbeit durchzuführen.“

„Am Anfang ist es wie eine Fremdsprache“

 

Wie sehen eure nächsten Schritte aus?

Lukas Ruetz: „Vor allem in Frankreich und Italien sind wir noch nicht so gut vernetzt, da brauchen wir Unterstützung. Das Ganze ist aus der D-A-CH-Region entstanden. Wichtig sind deshalb große Player wie Alpenvereine, damit wir die Masse erreichen. Mit diesen sind wir bereits im Gespräch. Man muss dabei sehr überlegt vorgehen. Denn es soll als positive Unterstützung und nicht als Kritik an den Lawinenwarndiensten wahrgenommen werden. Wir als Wintersportler wollen Druck bei der Politik aufbauen mit dem Augenmerk: wir brauchen bessere Ressourcen und Zusammenarbeit um die Zahl der Toten weiter zu reduzieren. Bis jetzt war das Feedback der Warndienste, die ich persönlich kenne: ‚Ja das wird schwierig. Aber cool, dass Ihr das auf die Beine gestellt habt…‘“

Auf der IFALP Website ist die Informationspyramide, nach der im Lagebericht die wichtigsten Informationen zuerst dargestellt werden sollen. Welche der sechs Stufen der Pyramide sollte der Tourengeher sich behalten, wenn er den LLB liest?

Lukas Ruetz: „Lesen sollte jeder vom kompletten Neuling bis zum Profi immer alles, damit man sich an den Terminus gewöhnt. Am Anfang ist es wie eine Fremdsprache. Ich empfehle für Neulinge, sie sollen vor Ort zur Risikoeinschätzung eine Strategie verwenden, wie Stop or Go oder das Lawinenmantra. Sobald man das Grundwissen hat und damit umgehen lernt, kann man wesentlich besser mit den Beschreibungen arbeiten.“

Infos

Mehr zu Lukas Ruetz

Auf seinem Blog lukasruetz.at, in der Kolumne „SchneeGestöber“ auf Powderguide.com und besonders bei seinen Vorträgen erfährt man viel, anschaulich und praxisnah über Lawinenkunde. Wer unauffällig Tourentipps von ihm absahnen will, steigt im Berggasthof Ruetz in St. Sigmund ab.
IFALP: http://www.ifalp.org/ 
EAWS:    www.avalanches.org/
ISSW: www.issw2018.com/ 
Tourenblog: www.lukasruetz.at/

Beobachter des LWD

In Tirol beispielsweise gibt es ca. 30 Beobachter des Lawinenwarndienstes. Zum einen die stationären, die täglich die statistische Weiterführung der Daten seit Jahrzehnten verantworten. Andere wie Lukas aber auch Bergführer oder Mitarbeiter von Skigebieten melden Lawinenabgänge, graben Schneeprofile und machen Unfallanalysen.

Reportage

„Auf Kontrollflug mit dem LWD Tirol“
Siehe Abenteuer Tiefschnee Ausgabe 2019
https://www.abenteuer-magazine.de/serviceevents/e-paper/