Wandern, wo das wilde Herz Europas schlägt

Die Malá Fatrá in den Westkarpaten

von Agathe Paglia

Hier hat die Schöpfung tief ins Füllhorn der Vielfalt gegriffen und ein Refugium für wilde Orchideen wie große Beutegreifer geschaffen.

Den Osten hatten wir bei unseren Naturreisen über Jahrzehnte ausgespart. Echte Wildnis vernordeten wir ausschließlich im Westen. Wir suchten sie im Dschungel Südamerikas oder im Grizzly-reichen Kanada. Doch wucherndes Grün, Wölfe oder Bären gibt es auch im dichtbesiedelten Europa. Entlang des Karpatenbogens existiert sie noch, diese facettenreiche, intakte Natur, in der der Mensch nur Gast ist.
Schon die Fahrt durch die slowakische Provinz gleicht einer Zeitreise. Unzählige Burgen und imposante Festungen säumen die Route von Wien über Bratislava bis nach Žilina, der viertgrößten Stadt des Landes. Es sind Zeugen einer wehrhaften Vergangenheit. Kriege verändern Grenzen und sie adeln ihre Kämpfer zu Nationalhelden. Juraj Jánošík ist einer von ihnen. Eine monumentale Statue des slowakischen Robin Hood weist uns in seinem Geburtsort Terchová den Weg hinein in das Tal Vrantná. Unser Ziel ist die einzige Siedlung im Nationalpark Malá Fatrá, dem kleinen Schwestergebirge zwischen den Weißen Karpaten und der westlichen Tatra.

Dorfidyll mit Wachtelkönig

Es ist Mitte Juni. Warme Luft strömt über das geöffnete Fenster ins Fahrzeug. Die Wettervorhersage verspricht zwischen 20 bis 25 Grad Celsius. Ideales Wanderwetter. Urlaubsgefühl stellt sich ein. Sechs Kilometer später fahren wir durch die engen Gässchen Štefanovás, bemüht, keines der aufgeschreckten Hühner zu überrollen. Die meisten Häuserfassaden des Orts sind gezimmert, nicht gemauert. Katzen lugen durch Doppelfenster, Hunde dösen vor Eingangstüren. Hier wird Holz gespaltet, dort Wäsche abgehängt. Ein Dorfidyll wie aus einer Filmkulisse. Am letzten Haus der Straße machen wir Halt. Die Pension Muran liegt am Eingang zur Wildnis. Ein Bach plätschert munter vorbei und aus der Wildblumenwiese nebenan grüßt unverkennbar ein Wachtelkönig. Sein Ruf klingt wie eine Rätsche. Mit zehn anderen Wanderlustigen – aus Hessen, Thüringen, Sachsen, Bayern und Berlin – teilen wir uns die familiengeführte Herberge für eine Woche – und unseren Guide Valdo Trulik.
Schon als Junge hatte er Freude daran, die Pilze wie Pflanzen seiner Heimat zu bestimmen, Spuren zu lesen oder Vogelstimmen zu erraten. Wissen, das er über die Jahre perfektionierte und seit Ende der 1990er-Jahre mit kleinen Gruppen oder Individualreisenden teilt. Arten und Gattungen benennt Vlado in kantigem Deutsch, das der Slowake u.a. von einem Schweden erlernt hat – seinem Mentor, dem Wolfsexperten Erik Zimen. Ebenso die Kenntnisse um die großen Beutegreifer. In der Slowakei leben auf einer Fläche, die etwa so groß wie ein Drittel Bayerns ist, gut 500 Luchse, 600 Wölfe und 1.200 Braunbären, lernen wir. Eine Garantie, die Tiere auf den täglichen Touren mit vielen Höhen- und Distanzmetern zu sehen, gibt es jedoch keine. Die Malá Fatrá sei schließlich kein Zoo, weiß unser Guide. Dennoch: Die Anwesenheit der großen Drei verraten Spuren im matschigen Waldboden, ein „geschriebenes Buch“, wie Vlado es nennt. Kadaver von Beutetieren, Haarbüschel an Baumrinden schreiben es weiter. In Plastikröhrchen sammelt Vlado frische Wolfslosung, stellt Daten seiner Fotofallen online – alles im Dienste der Wissenschaft, ehrenamtlich und finanziert über seine geführten Touren. Gut 40 Kameras hat er in der Nähe von Kratzbäumen, Nisthöhlen oder Balzplätzen installiert, nicht ohne im perfekten Aufnahmewinkel die eigene Duftmarke „Trulik73“ zu hinterlassen. So bewegt er Meister Petz und Co., schnüffelnd zu verweilen. Eine Garantie für schöne Aufnahmen. Aktuelle schauen wir bereits in den Wanderpausen an, archivierte an den Abenden und an die Wand projiziert. Wir verlieben uns in eine Bärin, die ihren Nachwuchs säugt, verfolgen mit Schwindelgefühl den Überlebenskampf eines Eichhörnchens, das von einem Marder um ein Stammesrund gejagt wird, oder lachen herzhaft über einen Schwarzspecht, der minutenlang auf das Gehäuse einer Fotofalle einhämmert – bis zu deren Ende.

Vielfalt der Ökosysteme

Die vielfältige Natur der Malá Fatrá bietet noch vielfältigere Lebensräume. An jedem neuen Tag erkunden wir ein anderes Ökosystem. Am Fuße des Großen Rozsutec, unserem Hausberg, streifen wir durch hüfthohe Naturwiesen vorbei an Weideflächen von Walachen Schafen, die Fleisch, Wolle und Milch liefern. Letztere ist Basis des slowakischen Weichkäses. Wasserfallreiche Klamme erobern wir über Holzstege, Seile und Leitern, an ausgesetzten Stellen auch über in den Fels geschlagene Ketten oder Steighilfen. Mit Bedacht setzen wir jeden Schritt und blinzeln in eine Natur, die von Sonnenstrahlen inszeniert wird, erklimmen steile Wälder, in denen sich Bäume mit ihren Wurzeln in Fels und Erdreich krallen, um bei gutem Stand lotrecht Richtung Sonne zu wachsen. Ganz anders präsentiert sich die vegetationsfreie Kargheit des Hochgebirges. Auf dessen Kamm sind wir über den Dingen, blicken wie aus einem Adlerhorst über die Hohe Tatra und auf die Hänge der gegenüberliegenden Gipfel. Was unsere Ferngläser und Kameraobjektive nicht mehr erfassen, observieren wir über Vlados Spektive – sei es ein kapitaler Hirsch in einer Waldlichtung oder ein junger Bär, der im Hang gegenüber grast.

Der zweite Blick

Nicht alle Bewohner der Malá Fatrá sind für das ungeschulte Auge erkennbar. „Nur ein absoluter Vollignorant würde an einem kleinblättrigen Stendelwurz vorbeilaufen“. So formuliert leitet Vlado jenen wie weitere botanische Kurzvorträge und Anekdoten ein. Zugegeben: Auch der Fichtenspargel, das Narzissenblütige Windröschen oder das Quirlblättrige Läusekraut wären uns glatt entgangen. Ornithologisches Highlight unserer Expeditionen war der seltene Karmingimpel. Von Pilzen, Vlados Leidenschaft, kosten wir nicht nur Wissen. Flockenstielige Hexenröhrlinge, Perlpilze und Sommersteinpilze mit handtellergroßen Hüten landen zunächst in Stoffsäckchen und später in der Pfanne. Butter und etwas Kümmel treiben deren Geschmack auf die Gaumenspitze. Dieses Amuse Gueule wird mehrfach Auftakt eines Menus voller landestypischer Speisen. Brimsennockerl mit saurer Sahne und gebratenem Speck oder Gulasch aus ausgehöltem Krustenbrot kommen auf den Tisch. Auch Forelle nach Vlados Art, die wir mit gesammelten Kräutern und Pilzen gefüllt, mit Grashalmen vernäht auf handgeschnitzten Stöcken über offenem Feuer grillen.
Regionalität stärken und unkompliziert vieles selbst machen, ist Vlados Credo. In den Picknickpausen in Wald und Wiese stärken wir uns mit lokalen Käsesorten und Weinen zu seinem Gartengemüse. Wir lernen Schnaps aus dem Flachmann zu kippen, ohne das Schraubgewinde mit den Lippen zu berühren und prosten uns ein lautstarkes „Na zdravie“ auf Slowakisch zu. Laut Vlado ist es die logischste Sprache der Welt, die alles so betont wie es geschrieben steht. Wir lernen schnell, returnieren täglich seinen durchdringenden Morgengruß „Dobré ranó“ – manchmal noch etwas müde von den Höhenmetern des Vortags. Wer sich die Füße heiß wandert, kühlt sie im erfrischenden Bach. Wem der Sinn nach Wärme steht, setzt sich in geselliger Runde ins Holzbadefass im Freien.
Selbst dort wird Vlado nicht müde zu betonen, wie wichtig Wechselwirkungen in der Natur sind. Vom Borkenkäfer, der Totholzstrukturen für Insekten schafft, bis zum Wolf, der das Rotwild reguliert und den jungen Wald vor Verbiss schützt. Imbalance schaffe nur der Mensch durch sein unverhältnismäßiges Eingreifen in die Natur, klagt er. Traurige Beispiele dafür sehen wir genug: etwa ein Kahlschlag bis an die Kernzone des Nationalparks. Gesunde Baumbestände, die als Billigregale großer Möbelkonzerne enden. Aufklärung ist Vlado ein Bedürfnis. Seine Liebe zur Natur ist ansteckend. Darüber freut er sich. Schließlich will er Menschen gewinnen, die sich für Natur einsetzen, sich einmischen. Irgendwie ist Vlado Trulik auch eine Art Waldräuberhauptmann, denken wir, als wir an dessen Statue vorbei und zurück nach Terchová fahren. Ein Robin Wood, wenn man so will. Warum auch nicht? Jede Zeit braucht ihre Helden.

Infos

WISSENSWERT:

Die Malá Fatrá (Kleine Fatrá) ist ein 55 Kilometer langes Mittelgebirge im Nordwesten der Slowakei. Schon in den 1960er Jahren wurde das Gebiet unter Landschaftsschutz gestellt. Seit 1988 ist es Nationalpark. Bizarre Felsformationen, alpine Steilwände, dichte Wälder und blühende Wiesen beherbergen 1.100 identifizierte Pflanzenarten. 22 davon sind nur in den Karpaten heimisch. Große Beutegreifer sind es ebenfalls. Allein in der Slowakei leben etwa 500 Luchse, 600 Wölfe und 1.200 Braunbären auf einer Fläche, die einem Drittel Bayerns entspricht.

TIPPS DER AUTORIN:

Die einwöchige Naturreise wird von Trulik Travel angeboten. Vlado Trulik ist Slowake. Seit 1998 führt er kleine Gruppen und Individualreisende in der Malá Fatrá. Der Reisepreis liegt aktuell bei 1.040 Euro p. Person. Neben sieben Tagesführungen in deutscher Sprache sind Vollpension sowie Wein- und Käseverkostungen im Preis enthalten. Details zu Reise und Terminen: Homepage (vladotrulik.com)

ANREISE:

Wien ist knapp vier Autostunden vom Zielort entfernt. Über Prag oder Wien erreichen Bahnreisende den Zielbahnhof Žilina. Von dort aus fahren Linienbusse mehrmals täglich nach Terchová-Štefanová. Das Busticket kostet 3 Euro pro Person.

Bilder: Agathe Paglia