Tiefe Schluchten und luftige Höhen

Gravelbike-Tour von Thusis über die Via Spluga nach Chiavenna

von Steffen Müller

Es ist nicht allzu lange her, da war der Weg über die Alpen ein gefährliches Unterfangen. Eine der Hauptrouten aus dem Norden war die vom Bodensee über Thusis, die Viamala-Schlucht und den Splügenpass nach Chiavenna in Italien. Sie war beschwerlich, gefürchtet – und ein gutes Geschäft für die Säumer, die den Warentransport auf der Route perfektionierten.
Heute könnte man ganz einfach über die A13 mit dem Auto gen Süden rollen - oder man schont das Klima, fordert die eigene Kondition, macht den Weg zum Ziel und hat jede Menge Spaß. Als Weitwanderweg mit viel Kulturgeschichte am Wegesrand macht die Viaspluga die zweitausendjährigen Alpentransit-Geschichte auf fünf Etappen und 65 Kilometern erlebbar - oder mit modifizierter Route auf dem Gravelbike. Wir haben uns die in drei gut verdaulichen Happen eingeteilt und sind von Thusis über Andeer und Splügen bis Chiavenna knapp 80 Kilometer mit 2630 Höhenmetern unterwegs.

Warmfahren nach Hohenräthien

Los geht es in Thusis – und hier am Anreisetag zum Warmfahren auf die Burg Hohenräthien. Das Wetter spielt an diesem Tag noch nicht mit, soll sich aber pünktlich zum Start unseres eigentlichen Projekts putzen. Die 300 Höhemeter zur Burganlage auf dem Felskopf des Johannisberg lohnen aber auch – und gerade – bei abklingendem Regen und Nebelschwaden.
Die Festung in markanter Lage ist umgeben von schroffen Felsen und dunklen Wäldern. Die geschichtsträchtigen Gemäuer sind seit 1472 in Besitz der Familie Jecklin aber für die Öffentlichkeit zugänglich. Hier oben herrscht eine einmalige Stimmung, die erahnen lässt, wie sich Reisende in früheren Zeiten bei ihrem Weg durch die Berge fühlen mussten. Der perfekte Auftakt zu unserer Via-Spluga-Tour.

Erst nach oben, dann in die Schlucht

Nach erholsamer Nacht und hervorragendem Frühstück im Gyger Thusis geht es auf die erste Etappe unseres Abenteuers auf den Spuren der Säumer. 670 Höhenmeter bei 16,3 Kilometern stehen auf dem Programm. Sehr kurz, anfangs knackig und vor allem mit jeder Menge Zeit für die Höhepunkte am Streckenrand – oder darunter. Der erste Anstieg, 400 Höhenmeter auf mehr oder weniger feinem Untergrund, bewegt sich überwiegend im zweistelligen Prozent-Bereich. So sind die Oberschenkel direkt warm. Trotzdem genießen wir den kühlen Wald mit seinen Moosflächen und die Einsamkeit an einem Herbsttag auf der Via Spluga. Der Dunst verzieht sich nach und nach, jetzt vernebelt höchstens die von der Anstrengung beschlagene Brille an der steilen Rampe den Blick auf die wilde Natur.
Nach dreieinhalb fordernden Auftaktkilometern geht es rasant bergab in Richtung Passstraße. Dort angekommen radeln wir weitere knapp zwei Kilometer bergauf. Die Felsen um uns herum werden mächtiger, der Hinterrhein hat sich hier tief ins Gestein gegraben. Wir befinden uns in der einst berüchtigten und nach wie vor beeindruckenden Viamala-Schlucht. Dem Naturmonument nähert man sich zu Fuß. Die Räder bleiben derweil oben im Besucherzentrum. Während Millionen Jahren hat das Wasser die Schlucht in den massiven Fels geschliffen. Bis zu 300 Meter hohe Wände ragen in den Himmel, unten tost der junge Rhein Richtung Bodensee. Über Treppen und gesicherte Pfade kann man diese faszinierende Welt erkunden – und sich dabei etwas die Beine für den Rest der Etappe lockern. Noch ein Espresso auf der schmalen Terrasse über dem Abgrund und der Sattel hat uns wieder.

Kopfüber sagenhafte Geschichten

Die folgenden Kilometer auf der Straße sind traumhaft schön. Auf dem nagelneuen Belag geht es zwischen überhängenden Felsen über alte Steinbrücken weiter nach oben. Nach dem geschotterten Steilstück vom frühen Morgen fliegen wir jetzt förmlich den Berg hinauf. Nach so viel Nähe zu höllischen Tiefen passt das Ziel dieses Abschnitts ideal. Die Kirche von Zillis ist von außen wunderschön schlicht, besticht aber im Inneren durch eine der wenigen erhaltenen, bemalten hölzernen Kirchendecken aus dem 12. Jahrhundert. Mit den bemalten Tafeln könnte man sich durchaus über Stunden beschäftigen – auch wenn man sonst wenig mit Kirchenkunst und -architektur am Hut hat. Mit einem Spiegel taucht man bequem von der Kirchenbank in die Welt der abgebildeten Heiligen und Fabelwesen ein, ohne sich den Hals verrenken zu müssen.
Aus der faszinierenden Geschichte der Region – die einen Teil der Faszination der Via Spluga ausmacht – geht es wieder in die Gegenwart und die faszinierende Natur. Wir kurbeln über Schotter, laubbedeckte Pfade und kleine Sträßchen weiter bergauf Richtung Andeer. Das Tal hat sich geweitet, ist freundlicher und heller geworden. Über Donat erreichen wir das Örtchen Clugin und damit mit 1081 Meter den höchsten Punkt der heutigen Etappe.

Von der Tour ins Thermalbad

Die könnte man zwar durchaus verlängern, allerdings lohnt es sich, die Zeit für die Viamala-Schlucht und die faszinierende Kirchendecke von Zillis zu investieren. Auf der Via Spluga ist der Weg mit all seinen höchst unterschiedlichen Highlights das Ziel. Die fünf Euro ins Phrasenschwein zahle ich an dieser Stelle übrigens gerne. Der nächste Höhepunkt der Etappe wartet am Ziel in Andeer im Hotel Fravi, das bereits seit dem Jahr 1828 Gäste beherbergt. Die Geschichten, die das Gemäuer zu erzählen hat, sind spannend, die direkte Nachbarschaft zum Thermalbad sehr angenehm. Direkt aus dem Hotel geht es in die Wellness-Oase – mit Blick auf die Gipfel des Schamsertals. Genau die richtige Vorbereitung auf die zweite Etappe.

Steile Rampen, wunderbare Seen

Die führt von Andeer über den Bergsee Lai da Vons (1990 Meter) nach Splügen und hat immerhin 1220 überwiegend geschotterte Höhenmeter im Angebot – auch wenn insgesamt nur 22 Kilometer zu bewältigen sind. Der erste und eigentlich auch letzte große Anstieg des Tages ist… sagen wir: ehrlich. Auf elf Kilometer Strecke geht es rund 1100 Höhenmeter bergauf. Überwiegend fahrbar aber teils enorm steil. Meist haben wir es mit zehn bis 20 Prozent zu tun. Für eine Rast bietet sich ein Schlenker über den Maiensäß Promischur (1842 Meter) an. Dort gibt es Wasser aus dem Brunnen, Sitzgelegenheiten und eine Aussicht zum Niederknien – sofern einen die bisherigen Höhenmeter nicht ohnehin schon dazu genötigt haben.  Nach einigen Schlucken kühlen Quellwassers, einem Stück Andeerer Traum, mit dem wir uns am Morgen in der Sennerei Andeer versorgt haben – einem der besten Bergkäse, die ich je gegessen habe (mehr dazu in unserem Magazin Erleben – Touren. Natur. Genuss. unter www.abenteuer-magazine.de) – geht es weiter bergauf. Das Panorama ist atemberaubend und im Hintergrund erhebt sich die Felspyramide des Pizzo Tambo, die wir im Winter 2022 mit Tourenski und Steigeisen erklommen haben.
Der nächste Winter muss warten, zurück ins Jetzt. Auf 2065 Meter haben wir den Scheitelpunkt der Etappe erreicht und graveln bergab zum Lai da Vons. Im Hochsommer wäre ein Bad im See eine Pflichtveranstaltung. Im späten Oktober begnügen wir uns mit einer Rast an diesem traumhaften Fleckchen Erde. Was bleibt ist eine lange Abfahrt bis zum Sufnersee, ehe es die letzten Kilometer mehr oder weniger höhengleich über Schotterpisten bis nach Splügen geht. Im traditionsreichen Hotel Bodenhaus endet unsere Etappe. Ein Kaffee, ein Stückchen Kuchen und ein Dezi Weißwein auf der sonnverwöhnten und vermutlich einer der schönsten Terrassen Graubündens runden diese unwirklich schöne Gravelbike-Tour hoch über dem Hinterrhein ab.

Ab in den Süden

Die ersten beiden Etappen dieser Tour waren kurz – und teils ordentlich steil. Auch am letzten Tag sind flache Passagen Mangelware, aber es rollt deutlich besser. Über den Splügenpass geht es hinunter nach Chiavenna. Die Daten: 40 Kilometer, 750 Höhenmeter bergauf, derer 1850 bergab – alles auf Straßenbelag. Gute Bremsbeläge sind also Pflicht. Die Kletterei bis zur Passhöhe ist mit 653 Höhenmetern auf 8,7 Kilometern durchaus fordernd aber nicht unangenehm – und traumhaft schön. Im Oktober unter der Woche ist es hier zudem auch ziemlich einsam. Speziell die engen Haarnadelkurven ab Kilometer 5,8 sind purer Genuss.
Auf der Passhöhe auf 2113 Meter ist die Grenze zu Italien erreicht – und von nun an geht es über 30 Kilometer bergab. Zunächst über das Örtchen Montespluga und entlang des gleichnamigen Sees. Es ist eine Reise durch verschiedene Jahreszeiten und die Eindrücke entlang der Strecke sind einfach grandios. Erst felsige Berglandschaften mit spärlicher Vegetation in einem weiten, zugigen Hochtal, ehe es immer grüner, üppiger aber auch enger und steiler wird. Die Straße schlängelt sich durch Galerie um Galerie, Kehre um Kehre entlang des Flüsschens Liro gen Süden bis nach
Chiavenna auf 320 Meter Höhe. Wir sind jetzt mitten in Italien. Die Herbstsonne wärmt die Gassen und lässt ein ausgiebiges Mahl im Freien ohne Jacke zu. Dazu ein verdientes Gläschen Sforzato und man ist voll und ganz auf der Südseite der Alpen angekommen.
Den Rotwein sollte man sich definitiv sparen, wenn man wieder mit dem Fahrrad zurück nach Splügen will – oder bis zum nächsten Tag warten. 30 Kilometer Anstieg mit 1850 Höhenmetern sind kein Zuckerschlecken. Für uns ist das aber kein Thema. Wir fahren gemütlich mit Bus und Zug über St. Moritz zurück an unseren Ausgangspunkt nach Thusis, lassen die traumhafte Landschaft entspannt an uns vorbeiziehen und träumen von den Erlebnissen auf der Via Spluga.

Bilder: Ben Wiesenfarth

Die Geschichte stammt aus ABENTEUER BIKE. Mehr Gravel-, Road- und Mountainbike-Content gibt es hier im interaktiven Magazin!

Infos

Via Spluga

Bereits die Römer nutzten die Via Spluga als direkte Verbindung vom Süden in den Norden. Ihre Spuren sind allgegenwärtig. Zweitausendjährige Transitgeschichte lässt sich heute auf der Via Spluga von Thusis nach Chiavenna wieder echt erfahren. Auf dem Weitwanderweg wandert man die Via Spluga in vier Tagesetappen und auf 65 Kilometer Länge im Herzen der Alpen durch weitgehend intakte Landschaft und vorbei an bedeutenden Kulturgütern. Mehr unter viamala.ch/viaspluga
Wir haben uns mit dem Gravelbike auf einer leicht abgewandelten Route auf den Weg gemacht aber die Etappen so kurz gewählt, dass die Natur und Kultur am Wegesrand nicht zu kurz kommt. Trotz der Kürze der ersten beiden Etappen sollte man die Tour nicht unterschätzen – oder bei weniger guter Kondition längere Schiebepassagen einplanen.

Thusis – Andeer

Kilometer: 16
Höhenmeter: 670
Bergab: 400
Highlights:
Viamala-Schlucht, Kirche in Zillis, Thermalbad Andeer

Andeer – Lai da Vons – Splügen

Kilometer: 22
Höhenmeter: 1220
Bergab: 720
Highlights:
Weiler Promischur (Bild), Bergsee Lai da Vons, Blick auf den Sufnersee, Ortsmitte Splügen

Splügen – Chiavenna

Kilometer: 40
Höhenmeter: 750
Bergab: 1850
Highlights: Haarnadelkurven Splügenpass, Passhöhe, Abfahrt nach Chiavenna, Innenstadt von Chiavenna

Zu den Etappen auf Komoot

Säumerdorf Splügen

Einst Dreh- und Angelpunkt einer der wichtigsten transalpinen Transport- und Reiserouten hat Splügen jede Menge Geschichten zu erzählen. Sowohl der Weg über den Splügen, wie auch jener über den San-Bernardino-Pass, führt hier entlang. Das Ortsbild von Splügen: traditionelle Walserhäuser und prachtvolle Bauten wie die Herrenhäuser der Familie von Schorsch, die ursprünglich aus Pavia stammte und unter dem Namen Georgi später auch in Württemberg eine Rolle spielte. Dazu traditionsreiche Hotels wie das Bodenhaus: hier nächtigten einst Albert Einstein, Friedrich Nietzsche, William Turner oder Erzherzog Ferdinand Maximilian von Österreich. Etwas ganz Besonderes ist auch das Hotel Weiss Kreuz, eine liebevoll restaurierte, ehemalige Säumer-Herberge. Die bewegte Geschichte Splügens hätte in den 40er- Jahren durch einen geplanten Stausee fast ein Ende in den Fluten gefunden, doch die Bevölkerung wehrte sich erfolgreich gegen das Projekt. Heute lebt Splügen hauptsächlich vom Tourismus - inklusive kleinem aber feinem Skigebiet unterhalb des Oizzo Tambo - und von der Landwirtschaft. Mehr zu Splügen und zur Region unter viamala.ch

Übernachtungstipps:

In Thusis: Gyger Confiserie, Restaurant, B&B
gyger-thusis.ch

In Andeer: Hotel Fravi
fravi-hotel.ch

In Splügen: Hotel Bodenhaus
hotel-bodenhaus.ch