Der Plan ist ambitioniert. Wir wollen auf das 3402 Meter hohe Rheinwaldhorn. Ein anspruchsvoller Skitourengipfel – was auch am nicht ungefährlichen Aufstieg zu unserem Stützpunkt, der bewirtschafteten Zapporthütte, liegt. Der führt unter anderem über einen Waffenplatz der Schweizer Armee, auf dem scharf geschossen wird. Dieses Problem ist mit Anmeldung und entsprechender Durchquerung im vereinbarten Zeitfenster allerdings lösbar.
Unkalkulierbarer sind die steilen Hänge links und rechts des schmalen Talkessels, den man durchqueren muss. Hier lösen sich bei entsprechender Schneelage häufig spontane Lawinen. Nach starken Schneefällen sollte man dort keinen Fuß hineinsetzen – und an warmen Frühjahrstagen früh starten. Mit anderen Worten: Die Tour aufs majestätische Rheinwaldhorn ist nur bei sicheren Verhältnissen möglich. „Das macht aktuell überhaupt keinen Sinn, der Zustieg ist in den nächsten Tagen viel zu gefährlich“, sagt unser Bergführer Florian „Flo“ Möhl von der Bergsportschule Grischa und bestätigt, was wir beim Blick aus dem Fenster und auf die Vorhersage bereits vermuten.
Bluebird in Sicht
Also wird Plan B geschmiedet, während der Schneefall vor dem Hotelfenster immer dichter wird. Einige Kilometer nordöstlich liegt die Cufercalhütte – eine Selbstversorgerhütte, die trotz erheblicher Lawinengefahr im Lagebericht bei entsprechender Routenwahl sicher erreicht werden kann. Es herrscht Winterwetter vom Feinsten – im April. Für den kommenden Morgen ist strahlender Sonnenschein vorhergesagt. Powder und blauer Himmel – ein echter Bluebird. Dazu die Aussicht, mit unserem Standortvorteil auf der Hütte die unberührten Hänge für uns allein zu haben.
Los geht es im Bilderbuchörtchen Sufers oberhalb des Sufnersees – nicht ohne im dortigen Dorfladen für ein standesgemäßes Abendessen einzukaufen. Käse aus dem Tal für ein Fondue, dazu Knoblauch, Brot, Weißwein aus der Bündner Herrschaft… und Schnittlauch: „Ein echtes Fondue ohne frischen Schnittlauch geht überhaupt nicht“, sagt Flo. Wer würde dem Local da widersprechen.
Durch dichtes Schneetreiben laufen wir zunächst auf einem Forstweg bequem bergauf. Mit jedem Meter wird der Schnee trockener. Die Bäume sind tief verschneit, die Landschaft wie in Watte gepackt. Die Stimmung ist so, wie sich der Flachland-Tiroler – oder in diesem Fall Flachland-Bündner – die Vorweihnachtszeit in den Bergen vorstellt. Es ist traumhaft schön. Über freier werdende, kupierte Hänge, geht es weiter bergauf. An einem tief verschneiten Holzstadel ist es Zeit für eine Pause. Ganz kurz lässt der Schneefall nach, die Sicht wird besser und erlaubt für einige Minuten den Blick auf die tief verschneite Bergwelt der Adula-Alpen und der gegenüberliegenden Tambo-Gruppe. Da schmecken Tee und Vesper gleich noch mal besser.
Das große Graben
So richtig steil wird es auf den rund 1000 Höhenmetern bis zur Hütte am Fuß des Piz Calendari nie. Gut so, entsprechend wenig Sorgen müssen wir uns um Lawinen machen. Auf einen Gipfel verzichten wir ob der schlechten Sicht an diesem Tag. Wie sich herausstellt haben wir nach Ankunft auf der Hütte noch ordentlich Arbeit vor uns: „Wir müssen den Trinkwasserbrunnen freischaufeln“, sagt Flo Möhl. „Ich bin gespannt, wie tief er eingeschneit ist“. Kleiner Spoiler: tief! Immerhin ist die Eingangstür der Hütte frei. Sie befindet sich an der abgeblasenen Seite. Während Fotograf Ben Wiesenfarth sich um das Feuer im Inneren kümmert, beschäftigen wir uns erst mal mit buddeln.
Hinter der Hütte muss sich der Brunnen befinden. Begrenzt durch zwei Stangen. Eine finden wir in der eingewehten Mulde, die zweite ist nicht zu orten. Fragt sich also, ob sich der Brunnen dahinter, davor, link oder rechts versteckt. Es hilft nichts: graben ist angesagt – und noch mal graben. Mit der Hüttenschaufel, den Lawinenschaufeln und vereinter Kraft stoßen wir irgendwann auf einen Widerstand – eine Holztafel, die den Brunnen abdeckt. Bis wir diese von den Schneemassen befreit haben, vergeht noch mal eine halbe Stunde. Das Loch ist jetzt knapp vier Meter tief. Draußen dämmert es bereits – und wir haben einen Bärenhunger.
Das Fondue schmeckt traumhaft und beim Blick aus dem Hüttenfenster funkeln bereits die Sterne zwischen den abziehenden Wolken. Ein echter Hüttenabend, ursprünglich und ganz ohne Folklore. Übernachtet wird im großen Lager – zu dritt durchaus komfortabel. Am nächsten Morgen strahlt die Sonne vom stahlblauen Himmel, rundherum glitzern die verschneiten Gipfel. Unsere Aufstiegsspuren vom Vortag sind nicht mehr zu sehen. Makelloses Weiß, ganz allein für uns. Die Vorfreude ist riesig. Die ganz steilen Hänge müssen wir auch heute auslassen. An einigen Flanken sind spontan abgegangene Lawinen zu erkennen, doch uns bleiben noch unzählige sichere Varianten.
Hänge für uns allein
Wir steigen in weitem Bogen in Richtung Hausberg der Cufercalhütte, dem Piz Calendari (2555 Meter) auf. Auf dem Gipfelgrat, auf 2542 Meter, beginnt eine unglaubliche Abfahrt, auf der wir – inklusive zweier freiwilliger Zwischenanstiege zwecks zusätzlicher Powder-Schwünge – rund 1300 Höhenmeter vernichten. Das Panorama ist atemberaubend. Unter uns der Sufnersee, gegenüber Pizzo Tambo und Co. Die weiten Hänge im oberen Bereich mit ihrem trockenen Schnee sind ein Traum für weite, schnelle Schwünge. Weiter unten macht sich die Frühjahrssonne schon bemerkbar. Der Schnee wird schwerer, gibt mehr Rückmeldung und macht immer noch richtig Laune. Weiter unten geht es rasant über den Schlittenweg zurück ins Tal.
Dort treffen wir den gut gelaunten Hüttenwirt der Cuffercalhütte vor seinem Haus zur Schlüsselübergabe: Er freut sich über den freigeschippten Brunnen. Allerdings war das noch lange nicht der letzte Schneefall in diesem Frühjahr. Die Schaufel dürfte noch ein paarmal zum Einsatz gekommen sein. Uns bleibt ein unvergessliches Erlebnis und die Erkenntnis, dass Plan B manchmal allererste Sahne – oder besser: feinster Powder mit exklusiver Übernachtung - ist. Einzig den Steinböcken, die es hier gibt, sind wir nicht begegnet.
Bilder: Ben Wiesenfarth