Polarer Segeltörn ins Tourenglück

Vom Boot in den Powder nördlich des Polakreises

von Dr. Heinz Klausmann

Nördlich des arktischen Polarkreises laden touristisch kaum erschlossene Gebiete bis ins späte Frühjahr zu Skitouren in nahezu unberührter Natur ein. Bei bis in den Mai hinein winterlichen Bedingungen sind etliche fernab der Zivilisation gelegene Skigipfel nur mit dem Boot zu erreichen. Auf einer Segelreise von Bodø bis nach Tromsø liefert die der nordnorwegischen Küste vorgelagerte Inselwelt der Lofoten, der Vesterålen und Senjas eine grandiose Kulisse.

„Das hat aber gut geklappt! Die Wellen haben mich in den Schlaf gewiegt!“ Irene ist glücklich. Nicht nur die Berchtesgadenerin hatte beim abendlichen Auslaufen der Ocean A aus dem Hafen von Bodø noch leichte Sorge vor der Seekrankheit. Auch für die übrigen segelunerfahrenen Skitourer stellte der Auftakt des Törns eine Mutprobe und eine Fahrt ins Ungewisse dar. Gemeistert! Die nächtliche Überfahrt von Bodø am norwegischen Festland verlief bei ruhigen Wetterbedingungen problemlos. Durch Seegang bedingte Übelkeit, Kopfweh und Schwächegefühl blieben allen erspart. Bereits vor dem Frühstück haben Kapitän Andrej und seine Crew in Henningsvær südlich der Insel Austvågøa  angelegt. Vom pittoresken Hafen ist der Weg ins Fischerdorf nur kurz.

Tradition und Moderne begegnen sich hier auf engstem Raum. Von den imposanten Gestellen zur Trocknung des in den Gewässern um die Lofoten von Januar bis April gefischten Skreis/Kabeljaus führt der Weg ins Dorf zum gemütlichen Klatrekaféen, dem lokalen Szenetreff. Es ist Vormittag. Leider zu früh, um den getrockneten „Stockfisch“ als „Bacalhau“-Gericht zubereitet zu kosten. Gerade die rechte Zeit, im gemütlichen Lysstøperi & Kafe zum Cappuccino eine herrliche „Kanelsnurr“, einen Zimtkringel, zu genießen. Pflicht ist vor dem Auslaufen ein Besuch des -zumindest aus der Vogelperspektive- schönsten Fußballstadions der Welt. Exponiert und wie in den umgebenden Fels geschlagen liegt der Sportplatz idyllisch auf der hintersten Insel Henningsværs. Weiter führt die Reise entlang der Südküste Austvågøas nach Laupstad. Der Zweimaster passiert unter Maschine Svolvær, die Hauptstadt der Lofoten. Die Gebirgsketten im Hintergrund sind auch im April noch schneebedeckt.

Bezaubernde Stimmung

Markus Beck kennt nach zahlreichen von ihm geführten Skitouren die Lofoten sehr gut. Der Bergführer wählt den 596 Meter hohen Sautinden als ersten Skigipfel der Reise aus. Die Gruppe setzt in zwei Touren mit dem Dinghi zum Ufer des Fjords über. Bei Seegang sind Disziplin und Geschick gefordert. Der Schnee reicht bis zur Küstenstraße. Für die Skitourer verblüffend, die Tour direkt am Meeresstrand zu beginnen. Besonders. Schön. Über sanft ansteigendes Gelände führt der Aufstieg zum hoch über der Bucht von Laupstad thronenden Gipfel. Auch einige Einheimische sind noch spät aufgestiegen, um die dramatisch untergehende Sonne zu genießen. Nach der Abfahrt über weitläufige Hänge empfängt eine bezaubernde Stimmung die Skifahrer. Das glasklare Wasser der Bucht spiegelt die in der Abendsonne golden erstrahlende Bergwelt.

Ocean A legt gegen Mitternacht im Trollfjord an. Kein Problem für Andrzej, den erfahrenen Seemann aus Polen. Auf dem Weg zum nächtlichen Liegeplatz serviert Halina, Ehefrau des Kapitäns, erste Offizierin und Köchin das Abendessen im gemütlichen Achtersalon. Zeit zum Kennenlernen. Drei Bayern sitzen mit drei Österreichern und einem Preußen in einem Boot. Die Liebe zu den Bergen verbindet sie. Diejenige zum Meer wird sie in den nächsten Tagen einen. Am Morgen schimmert die gefrorene Oberfläche des Trollfjords bläulich. Über Nacht hat sich eine Eisschicht gebildet. Keine Sorge. Der Stahlrumpf der Ocean A ist eisfest. Der Zweimaster war schon im Nordpolarmeer im Einsatz. Steil ragen die umliegenden Berge aus dem Meer. Eisige Kälte umgibt das wohlig beheizte 23 Meter lange Schiff. Die Crew lernt rasch, die Vorteile einer solchen schwimmenden „Skihütte“ zu schätzen.

Vom Boot auf die Ski

Die Ski vom Boot auf den schneebedeckten Steg, auffellen. Und schon geht es auf Tour. Heute zunächst 500 Meter hinauf zur Trollfjordhytta. Die gemütlich eingerichtete Selbstversorgerhütte des DNT (Norwegian Trekking Association) ist von einigen über 1000 Meter hohen Skibergen umringt. Bei den herrschenden Bedingungen fällt die Wahl des Bergführers auf den TM7. Eine kurze steile Abfahrt führt zum 250 Meter unterhalb der Hütte gelegenen Stausees Trollfjordvatnet. Nach dessen Überquerung geht es mit Spitzkehren erneut hoch auf 903 Meter.

„Artic Powder“ entschädigt auf den 35° bis 40° steilen Hängen hinab zum See für die Mühen des Aufstiegs. Von der Staumauer schwingen wir durch lichten Birkenwald zum Fähranleger am Trollfjord. Im Licht der untergehenden Sonne erscheint am schmalen Ausgang des Fjords ein Schiff der Hurtigruten. Postkartenmotive unter sich. Norwegen vom Feinsten. Gleiches gilt für die Ausfahrt aus dem Fjord am nächsten Morgen. Zwischen hoch in den Himmel ragenden Felsen gleitet das 60 Tonnen schwere Segelschiff durch eine enge Passage der Sonne entgegen. Am Ufer glänzen Häuser und Hütten in kräftigen Farben. Auf dem Weg nach Strømhella im Tengelfjord kontrastieren Rot, Blau, Gelb und Grün miteinander. Und mit dem strahlenden Weiß der bis zum tiefblauen Meer reichenden Schneedecke. Mit dem Dinghi setzt Bootsfrau Alicja die Skitourer über ans Land. Vorsicht ist beim Ein- und Ausstieg ins Beiboot sowie auf den rutschigen Felsen am Strand geboten.

Wetterglück

Vor azurblauem Himmel erstrahlt der 998 Meter hohe Olsanestinden. Nach gut drei Stunden ist der steile Gipfelhang erreicht. Eine markante Wechte erschwert den Weg zum Gipfelgrat. Lohn der Mühe ist ein Ausblick auf das weit unten schimmernde Meer und die schneebedeckten Gipfel der Umgebung. Weite Hänge mit reichlich Pulverschnee laden zu einer herrlichen Tiefschneeabfahrt ans Meer ein. Dabei stets im Blick die in der Bucht ankernde Ocean A. Der durch die eingetretene Ebbe gesunkene Wasserstand erschwert den Einstieg ins Dinghi zur Überfahrt zum Schiff. Wieder an Bord kehrt auf der abendlichen Fahrt gen Norden rasch vertraute Routine ein. Trocknen der Ausrüstung, Körperpflege, Essen und Austausch der am Tag gefertigten Videos und Fotos. Halinas Meldung unterbricht die beschauliche Stimmung: Polarlicht-Alarm. Auf dem Weg zwischen Sortland und Risøyhamn bietet der nächtliche Himmel über den Vesterålen ein spektakuläres Szenario: Aurea borealis. Die Nordlichter erhellen den Himmel in beeindruckenden Streifen gelblichen Grüns. Staunen erfasst die segelnden Skifahrer angesichts der überwältigenden Lichterscheinungen am nördlichen Polarhimmel. Faszinierend. Magisch. Freilichtkino 2.0.

Andrzej hat Ocean A bereits im Morgengrauen sicher durch den Risøy Kanal im Norden der Vesterålen gesteuert. Auf der Insel Grytøya wartet der Trolltinden auf die Skitourer. Werden sich hier endlich Trolle, die Fabelwesen der nordischen Mythologie, zeigen? Ein Transfer an Land ist nicht erforderlich. Bequem vom Fähranleger startet der Aufstieg durch lichter werdende Birkenwälder. Pssst. Markus hat einen Elch gesichtet, der auf dem Gegenhang nach Nahrung sucht. Willkommene Unterbrechung. Gelegenheit, die eindrucksvolle Natur zu bestaunen. Der Gipfelhang des 813 Meter hohen Trolltinden ist ungewöhnlich steil. Keine Trolle weit und breit.

In schneller Fahrt hinunter ans Meer! Erneut ungetrübter Fahrgenuss mit Panoramasicht. Das Gelände muss den Vergleich zu den Alpen nicht scheuen. Selbst österreichische Skifreaks vergessen bei weiten Schwüngen hinab zum Steg ihre geliebten heimatlichen Berge. Vorübergehend. Es ist kalt auf der anschließenden Überfahrt nach Skrollsvika an der Südwestspitze der Insel Senja. Dennoch lädt das Achterdeck der Ocean A ein, im Windschatten des noch eisbedeckten Deckhauses den Sonnenuntergang zu genießen. Unter Segeln wird die Reise durchs Nordmeer zum unvergesslichen Erlebnis. Beim Auslaufen am nächsten Morgen erinnert das Eis im Hafen an die Schiffsposition deutlich jenseits des nördlichen Polarkreises. Ein eisiger Wind weht auf dem Weg in den Selfjorden. Auf 964 Meter erreicht die Gruppe am sturmumtosten Kvænan-Gipfel einen weiteren „Höhepunkt“ ihrer Reise. Ungewohnt mondän stellt sich der Ort Hamn an der Westküste von Senja dar. Im Hafen und in den umliegenden Hotels werden zahlreiche Möglichkeiten zu einem erholsamen und erlebnisreichen Urlaub angeboten.

Eisiger Wind und Powder

Der Crew der Ocean A taugt allerdings die Behaglichkeit des 1994 in Stettin/Polen gebauten Segelschiffs mehr. Sie lauscht nach „Schnitzel mit Gemüse und Salat“ zum Dinner noch lange Kapitän Andrzej, der ausführlich von seinen Plänen für das Jahr 2025 berichtet. Er wird mit seinem Schiff nach Grönland zurückkehren und dort private Kreuzfahrten durch die Gletscherwelt der Disco-Bucht anbieten. Sein großes Ziel ist danach die Befahrung der Nord-West-Passage mit einer professionellen Crew.

Einen kleinen Ausblick auf die dort zu erwartenden Bedingungen gibt die Weiterfahrt am Folgetag. Es ist windig. Daher verlangt eine letzte Skitour 871 Meter hinauf zum Grådtinden in Kvaløya noch einmal Ausdauer und Standhaftigkeit. Dafür gibt es die beste Pulverschneeabfahrt des Törns. Unerwartet. Nicht zu toppen. Unvergesslich. Raue See und auffrischende Winde prägen die Überfahrt durch den Straumsfjorden nach Tromsø. Die namensgebende Strömung erschwert das Erreichen des Zielorts. Mit kluger Planung und besonnenem Steuern meistern Alicja und Andrzej auch diese letzte Herausforderung der Reise über mehr als 350 Seemeilen. Um 19 Uhr legt Ocean A sicher im Eismeerhafen von Tromsø an. Dem Hafen, der schon den Abenteurern Fridtjof Nansen und Roald Amundsen als Ausgangspunkt zu ihren Polarexpeditionen gedient hat.
Einen letzten Höhepunkt findet die Reise im Arctandria Sjømat Restaurant am Hafen bei Skrei, Lachs, Steak und ØL. Nein. Nicht Öl, dem „norwegischen Gold“. Sondern einem leckeren lokalen -und wohlverdienten- Bier.

Infos

Anreise

Von allen deutschen Flughäfen bestehen Verbindungen über Oslo mit einer Flugzeit von etwa 2 Stunden für die Strecke Oslo-Tromsø bzw. Oslo-Bodø. Direktflüge nach Tromsø bieten Edelweiss ab/bis Zürich von Mai bis September und von November bis Ende März sowie Eurowings ab Hamburg ein- bis dreimal wöchentlich an.
www.flyedelweiss.com
www.eurowings.com

Ocean A

Skipper Andrzej Gorajek aus Stettin/Polen besegelt mit Ehefrau Halina und Bootsfrau Alicja Laton seit Jahren bevorzugt Gewässer nördlich des Polarkreises. Mit seinen für die Befahrung arktischer Gewässer ausgebauten Schiffen Ocean A, Ocean B
und demnächst Ocean C bietet er im Internet unter www.natango.pl sowohl Kojen- als auch Gruppencharter nach u.a. Svalbard, Island und Grönland an. Regelmäßig befördert Andrzej internationale Forschergruppen in entlegene Gebiete rund um Spitzbergen und Grönland. Mit Ocean B drang er am 08.09.2020 bis auf 84°17‘31‘‘ nördlicher Breite vor. Vom Nordpol war er da weniger als 1.000 km entfernt.
Ocean A bietet 10 bis 12 Gästen ausreichend Platz und ist mit modernster Navigationstechnik ausgestattet. Ein 220 PS starker Motor treibt das 23 m lange Schiff mit 60 Tonnen Verdrängung bei Flaute und den Hafenmanövern an. Aufgrund seiner breiten technischen Ausbildung ist der Skipper in der Lage, kleine und mittlere Reparaturen und Instandsetzungen auszuführen. In entlegenen Fahrgebieten ein unschätzbarer Vorteil.

Zur Person

Markus Beck, 47 Jahre alt, nahm von November 2019 bis April 2020 an der MOSAIC-Expedition auf dem Forschungseisbrecher „Polarstern“ teil. Das internationale Forschungsprojekt, angeleitet vom deutschen Alfred-Wegener-Institut, umfasste eine einjährige, internationale Expedition in die zentrale Arktis, bekannt auch als „Multidisziplinäres Driftobservatorium zur Untersuchung des Arktisklimas“.
Er leitet seit vielen Jahren Skitouren in den Westalpen sowie in arktischen Regionen. Hierzu befähigen ihn Ausbildungen zum staatl. geprüften Bergführer, Heeresbergführer und Landesskilehrer. Er ist ebenso als Rettungssanitäter und Berufsfeuerwehrmann tätig.
Veranstalter: „Alpine Welten Die Bergführer GmbH & Co. KG“ bieten im Sommer wie Winter Bergtouren und andere Aktivitäten im Alpenraum und weltweit an. Ein Schwerpunkt des Angebotes sind aufgrund der stabilen klimatischen Verhältnisse Skitourenreisen nach Skandinavien und in arktische Regionen.
www.alpinewelten.com

Diese Reportage ist in unserem Magazin ABENTEUER SKI - PISTE. FREERIDE. TOUR. erschienen. Hier geht es zum interaktiven E-Paper.