Ein Kanton, zwei Sprachen, majestätische Gipfel mit ewigem Eis in den Höhen und mediterranes Klima mit Weinanbau im Tal der Rhône – das Wallis bietet wirklich alles, was das Herz begehrt. Besonders gut meint es die Region mit all jenen, die mit Touren- oder Freerideski unterwegs sind. „Abenteuer Tiefschnee“ stellt zwei Täler zum Verlieben vor: das Lötschental im Norden und das Val d‘Hérens im Süden der als „Röstigraben“ bezeichneten französisch-deutschen Sprachgrenze.
Im Lötschental
Wer nach der Bahnstation Goppenstein links abbiegt und der schmalen Straße ins Lötschental folgt, der lässt den Alltag in kürzester Zeit hinter sich, fühlt sich in eine andere Zeit versetzt – in eine Zeit, in der die Uhren langsamer gehen. Die uralten Holzhäuser schmiegen sich an die Hänge, scheinen sich vor der alles dominierenden Bergkulisse mit ihren steilen Hängen wegzuducken.
Hier bestimmt noch die Natur den Gang der Dinge, von Bausünden sind die Örtchen Ferden, Kippel, Wiler, Ried und Blatten komplett verschont geblieben. Eingerahmt sind sie von Drei- und Viertausendern. Beste Voraussetzungen also für Freerider und Tourengeher.
Epische Abfahrten
Mit den Liften des kleinen Skigebiets Lauchernalp, die erst am Hockenhorngrat auf 3111 Meter Höhe enden, wird nicht nur ein riesiges Areal für Freerider erschlossen, es ergeben sich auch kaum endende Tourenmöglichkeiten in alle Himmelsrichtungen – von relativ entspannt bis extrem. Vor allem aber kann man mit moderaten Aufstiegsmetern epische Abfahrten erreichen. Die Touren enden entweder im Lötschental oder beispielsweise auch im Berner Oberland in Kandersteg. Zurück geht es problemlos mit Bahn und/oder Bus.
Hoch zum Gitzifurggu
Da Bergführer Benedikt Jaggy es diesmal mit einer gemischten Gruppe aus erfahreneren Tourengehern und Anfängern zu tun hat, geht es gemütlich los – und mit der Bahn auf den Hockenhorngrat. Von hier folgt die Querung unterhalb des Hockenhorns – mit unglaublicher Aussicht auf die Westalpenprominenz bis hinunter zum Mont Blanc. Vom Grat geht es gemütlich bergab bis zur Lötschenpasshütte (2690 Meter), ins Quartier für den heutigen Abend.
Die ist nicht nur modern und doch gemütlich, sie wurde auch als erste alpine Berghütte mit dem Minergie-Standard für extrem niedrigen Energierverbrauch zertifiziert. Besitzer Beat Dietrich und sein Team können aber nicht nur Energie sparen, sondern auch kochen. Selbstverständlich mit regionalen Zutaten. Für hungrige Tourengeher sehr zu empfehlen sind die Älpler-Makkaroni mit Apfelmus. Dazu ein Gläschen Walliser Wein und die erholsame Nacht kann kommen. Doch noch ist es Mittag und eine kleine Tour hat Benedikt Jaggy noch auf dem Plan: „Da gehts hinauf“, sagt er und zeigt aus dem Fenster auf einen sonnenbeschienenen, aber nicht ganz flachen Hang. Nach einer Suppe geht es raus in Richtung Gitzifurggu – was hochdeutsch so viel bedeutet wie Ziegen-Pass. Der ist rund 2900 Meter hoch und bietet eine Rundumsicht über das Wallis und das Berner Oberland. Vorausgesetzt man sieht etwas.
An diesem Tag meint es das Wetter nicht so gut mit uns – zwei Niederländern, einem Finnen, einem Baden-Württemberger und Local Benedikt Jaggy aus dem Wallis. Nach dem Start an der Lötschenpasshütte zieht es in Rekordgeschwindigkeit zu. Dazu frischt der Wind auf. Es pfeift ordentlich über den Grat. Die Einsteiger, die bisher nur einen Sonnentag bei Traumbedingungen erlebt hatten, bekommen direkt die Kehrseite der Skitouren-Medaille präsentiert. Kälte, Sturm, schlechte Sicht, windgepresster Schnee und Bruchharsch. Dazu ist der Hang relativ steil, ohne Spitzkehren geht es nicht – doch die sitzen nicht bei allen.
Es schneit immer stärker. Benedikt Jaggy bläst zur Umkehr. Die gut 150 Höhenmeter, die bis dahin bewältigt sind, werden auch bergab kein Zuckerschlecken. Mit vereinten Kräften schlägt die leicht gerupfte Gruppe wieder in der Lötschenpasshütte auf. Die Bilanz: ein halb angefrorenes Ohrläppchen, etliche Stürze und die Gewissheit, dass das Tourenvergnügen ruckzuck auch unangenehm werden kann.
Her mit den Älpler-Makkaroni
Doch eines sollte man nicht vergessen: Nach Schnee kommt Sonnenschein und ersterer bleibt im Idealfall noch eine Weile liegen. Die Wettervorhersage für den nächsten Tag ist vielversprechend. Also her mit den Älpler-Makkaroni, Apfelmus und einem Gläschen Fendant. Die Nacht in der Hütte wird lustig und die Nacht entspannt, während sich draußen der Schneesturm austobt.
Der nächste Morgen beginnt neblig. Doch mit jedem Höhenmeter in Richtung Hockenhorn wird die Sicht besser. Vor uns glitzern Powderhänge, so weit das Auge reicht. „Da lang“, sagt Benedikt Jaggy und stürzt sich in das unberührte Weiß. Auf der Südseite ist der Schnee im Gegensatz zu den verblasenen Nordhängen praktisch nicht vom Wind beeinflusst – weite Turns ohne Hindernisse. Ein echter Traum. Auf den Gipfeln stürmt es noch. Also entscheiden wir uns für einen Freeride-Tag mit Liftnutzung im Lauchernalp-Gebiet und kurzen Aufstiegen.
Ein Tag wie im Rausch
Es wird ein wahrer Rausch. Das kleine Skigebiet bietet Variantenmöglichkeiten vom Feinsten. Powder-Abfahrten ohne Ende, hoch, runter, hoch, runter, bis die Oberschenkel um eine Pause betteln und der Magen nach Kalorien schreit – nach viel Kalorien. „Nach dem Mittagessen zeige ich euch noch etwas“, sagt Benedikt Jaggy. Aus dem Quartett ist inzwischen ein Duo geworden und so machen sich der Finne und der Württemberger mit dem Local aus dem Lötschental zu einer ganz besonderen Unternehmung auf – es geht in Richtung Spalihorn. Hoch mit der Gandegg-Hockenhorngrat-Bahn auf 3111 Meter, dann zunächst ein paar Meter über die Piste, links haltend, bis die Felle aufgezogen werden. Nun folgt ein halbstündiger Aufstieg zum Stieltihorn, ehe es über kupiertes Gelände bis zum Einstieg des Spalihorns geht. Das Spalihorn ist ein riesiger Felsblock mit Sprung in der Mitte. Der entpuppt sich als schattige Rinne – schmal, steil, faszinierend.
Hier sollte jeder Schwung sitzen. Nach 150 Metern öffnet sich der Spalt und gibt den Blick auf das gegenüberliegende Bietschhorn und weite Hänge frei. Das war ein ganz spezielles Vergnügen und ein würdiger Abschluss eines Freeride-Tags im Lötschental.
Als wären das nicht schon genug Höhepunkte, steht noch ein vorzügliches Abendessen im Hotel Nest- und Bietschhorn auf dem Programm, einem Haus mit 150-jähriger Geschichte. Ein Besuch – am besten mit Übernachtung – in dem traditionsreichen Haus bei Esther Bellwald und Laurent Hubert lohnt auf jeden Fall. Satte 15 Gault-Millau-Punkte sprechen für sich. Laurent Hubert kombiniert auf elegante Art die französische Küche mit Walliser Spezialitäten. Genau die richtige Stärkung für die nächste Tour.
Im Val d‘Hérens
Ortswechsel auf die andere Seite der Rhône. Südlich von Sion erstreckt sich das Val d‘Hérens, das nicht nur wegen der Eringer Kühe berühmt ist, sondern auch wegen seiner Gipfel – unter anderem die 4000er Dent Blanche (4357 Meter) und Dent d’Hérens 4171 Meter. Unterhalb dieser Riesen gibt es Skitouren für ein halbes Leben. Neben unzähligen anspruchsvollen Hochtouren – sowohl die Haute Route, wie auch das legendäre Skitourenrennen „Patrouille des Glaciers“ führen durch die Region – gibt es durchaus auch Unternehmungen für normal Trainierte.
Das Val d’Hérens hat noch weit mehr zu bieten – zum Beispiel Ursprünglichkeit. Hier hat man nicht das Gefühl, sich in einer künstlichen, für Touristen geschaffenen Kulisse zu bewegen, sondern in lebendigen Bergdörfern. Eines davon ist Saint-Martin. Unterhalb des Örtchens befindet sich auf einem kleinen Plateau der kleine Weiler Ossona. Eigentlich vor mehr als 50 Jahren aufgegeben, ist hier vor Kurzem wieder Leben eingekehrt. Eine kleine Landwirtschaft mit Ziegen, Kühen, Pferden, Gänsen und Enten, dazu ein kleines Restaurant und vier zu komfortablen Appartements ausgebaute Hütten aus dem 18. und 19. Jahrhundert machen Ossona zu einer ganz besonderen Unterkunft. Im Restaurant sorgen Félixe und Bénédicte mit Walliser Fondue und anderen Köstlichkeiten für gemütliche Abende.
Tagsüber lockt La Maya
Die Nacht war traumhaft, am Horizont kündigt sich die Sonne an. Das trifft sich gut, schließlich steht heute eine abfahrtsorientierte Tour auf dem Programm. Zunächst geht es mit Liftunterstützung im Skigebiet Nax Mont-Noble mit der Seilbahn La Combe bis auf 2640 Meter Höhe. Nach kurzer Abfahrt zum Col di Cou (2529 Meter) beginnt die eigentliche Tour. Nachdem es im schattigen Lift noch bitterkalt war, scheint die Sonne auf dem Sattel vom stahlblauen Himmel. Die Sonnenstrahlen wärmen nicht nur, sie beleuchten auch ein unberührtes Tal mit jungfräulichem Schnee. Über der Szenerie thront am westlichen Ende des Vallon de Réchy die eindrucksvolle Spitze der 2916 Meter hohen La Maya. Schräg über dem Col di Cou stürzt sich ein Snowboarder vom Grat in einen 40 Grad steilen Powder-Hang, sein Kumpel hält mit der Kamera drauf.
Wir müssen noch eine Weile auf Abfahrtsspaß warten. Bergführer Jacques Salamin schaut mit einem Auge zu und führt uns mit gebührendem Abstand in das weitläufige Tal hinein. Unser Ziel ist nicht die klettertechnisch anspruchsvolle La Maya, sondern der Pas de Lovégno (2695 Meter) unterhalb des steilen Gipfelaufbaus. Der gemütliche Anstieg durch das Hochtal ist atemberaubend schön. Eingerahmt werden wir von den Bergketten Crêt du Midi, Roc d’Orzival und Becs de Bosson.
Angekommen am Pas de Lovégno wird abgefellt und das Abfahrtsvergnügen beginnt. Traumhaft weite Hänge, 20 Zentimeter Neuschneeauflage und ein Panorama zum Niederknien. Nach ein paar rauschhaften Flanken schwingen Jacques Salamin und Patrice Gaspoz, der Geschäftsführer von Saint-Martin-Tourismus, vor einer in den Hang gebauten, kaum sichtbaren Hütte, ab. Die Walliser haben eine Überraschung vorbereitet. Im Inneren wartet ein Walliser Vesper mit allem drum und dran. Trockenfleisch, Käse, ein Schlückchen Wein und eine angeregte Unterhaltung über das Skitourenrennen „Patrouille des Glaciers“ von Zermatt nach Verbier, über dessen kleine Schwester namens „Patrouille de La Maya“ und über die besten Skitouren in der Region. „Die Patrouille de La Maya ist ein eigenständiges Rennen, das aber für viele Teilnehmer der Patrouille des Glaciers eine optimale Vorbereitung ist“, sagt Patrice Gaspoz.
Der Wein übrigens, den wir zu Speck und Käse gereicht bekommen, stammt direkt aus Saint-Martin, dem Ziel unserer Abfahrt. Direkt neben unserer Unterkunft Ossona befindet sich ein schwindelerregend steiler Weinberg. Hier wird der weiße Solaris angebaut – auf 1000 Meter Seehöhe. Eine echte Rarität.
Das Wallis ist definitiv ein besonders verwöhntes Stückchen Erde. Ungefähr dort, wo später am Mittag die rasante Tourenabfahrt endet, beginnt der Weinberg. Was will man mehr …