ein starkes Gewitter und sie musste den Grat rasch verlassen, steckte aber schließlich, weiterhin ohne Sicht, auf einem Felsvorsprung fest. Ihr Notsignal wurde schnell registriert, doch der Hub- schrauber konnte wetterbedingt nicht fl iegen. Ein Hüttenwirt ging mit seinem Hund los und fand sie, Stunden später. Ana erinnert sich heute weniger an die Gefahr – die hatte sie, soweit möglich, unter Kontrolle. Sie erinnert sich deut- licher an den Sonnenaufgang, den beide danach schweigend auf der Bank vor der Hütte beobachtet hätten. Inzwischen haben wir den Rückweg über einen anderen Pfad angetreten. Ana ermutigt mich, barfuß zu laufen. Das durchblute die Fußsohlen, kräftige die Muskulatur und stärke die Balance. Ich schäle mich aus den Wanderstiefeln, sie schlüpft aus ihren Barfußschuhen. Der Waldboden kühlt meine heißen Fußsoh- len, Matsch quillt zwischen die Zehen. Ich jubiliere, fühle mich wie damals, als ich den hinterlistigen Armin aus meiner Klasse mit einem Sprung in die Pfütze von oben bis unten eingesaut hatte. Ich frage sie, wie es mit der Körperpfl ege auf ihren Reisen bestellt sei. Sie lacht. Ihr Badezimmer sei der Gebirgsbach. Trekking-Fast-Food kommt Ana nicht ins Marschgepäck. Sie dörrt Fleisch, Obst und Gemüse selbst, so wird es haltbar und leicht. Wasser gewinnt sie aus der Natur und fi ltert es. Ana kocht mit Gasbrenner, entzündet nie ein offe- nes Feuer. Ob es sie je auf einer ihrer Touren gefro- ren habe, frage ich. Einmal, gesteht sie. Da habe sie sich mit Schlafsack unter das Vordach einer Jagdhütte gefl üchtet, um dem Schneeregen zu entkommen. Die Hütte war bewohnt. Der Jäger, der spät am Abend heimkam, habe sie eingeladen, in der Hütte zu schlafen. Er habe ihr signalisiert, dass er drei Töchter und eine tolle Frau daheim habe, also keinerlei Absichten hege. Er lud Ana wie selbstverständlich zum Abendes- sen ein und sagte: „So lange wir haben, teilen wir“. Das habe sie tief bewegt und geprägt. Schalen abstreifen Mittlerweile sind wir am unteren Wald- rand angekommen. Ich habe manch steinigen Abschnitt barfuß bewältigt. Was für ein tolles Gefühl. Ich frage Ana nach ihrem nächsten Projekt. Eigentlich Ana im Bryce Nationalpark in Utah. wollte sie 2020 alleine den Kaukasus der Länge nach überqueren. Diese Reise sei der Pandemie geschuldet verschoben. Die Sehnsucht danach, Maßstäbe, Ta- ges- und Uhrzeit wie in Schalen abzu- streifen, werde sie sicher bald einholen. Jetzt freue sie sich erst einmal auf die Gletscher der Alpen. Ana liebt Glet- scher. Dass ihr Ende absehbar sei, macht sie traurig. Deshalb hat sie sich mit dem Fotografen Christian Bock eine Doku- mentation vorgenommen, für die sie die Gletscher und je einen Protagonisten porträtieren, der die Eiszungen noch aus früheren Tagen kenne. Klimaschutz ist Ana wichtig. Flugreisen möchte sie vermeiden. Mit dem Zug bekomme man ein besseres Gefühl für Distanzen, könne nachvollziehen, wie Kulturen sich aneinanderreihen, Sprachen sich entwickeln. Inzwischen laufen wir auf Teer und schlagen noch mal den Weg zu unserer Maus ein. Sie ist weg, doch unser provisorischer Schutzwall steht. Wir schlussfolgern, dass das Mäusekind sicher von seiner Mutter eingesammelt wurde. Zwei breite Lächeln und einen herzlichen Abschied später radelt Ana zu ihrem nächsten Termin und ich ma- che mich auf den Nachhauseweg. Agathe Paglia Porträt Der Umgang mit Wasserfi lter und Gaskocher gehört dazu. www.abenteuer-magazine.de | 33